Vladimir S., geb. 1925, ist 1942 aus seinem Heimatort Berdjansk in der Sowjetunion/Ukraine zwangsweise über mehrere Stationen u. Lager nach Hannover in das Zwangarbeiter*innen-Lager der Firma Hanomag am Schlorumpfskoppelweg (heute Mercedesstraße) verschleppt worden.
Im folgenden Auszüge seiner Erinnerungen aus: Janet Anschütz u. Irmtraud Heike, Feinde im eigenen Land. Zwangsarbeit in Hannover im Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2000
„Ich erinnere mich nicht wie, aber am Abend brachte man uns nach Hannover in das Lager der Fa. HANOMAG. Am 6. Juni 1942 trafen wir dort ein. Zuerst schickte man unsere Gruppe in ein langes Gebäude mit großen Zimmern. Offensichtlich war das eine Werkhalle. Wir schliefen auf dem Fußboden ohne alles, doch nach zwei Monaten kamen wir in ein anderes großes Gebäude aus rotem Ziegelstein. Wir lebten in einem großen Zimmer: es war Schlaf- und Eßzimmer zugleich und hatte auch alle weiteren Funktionen. In einem Raum wohnten 260 Männer. Die Zimmer waren mit dreistöckigen Pritschen und dem Notwendigsten möbliert. Das Bettzubehör bestand aus einer Matratze und einem Kissen, welches ein grober strohgefüllter Sack war, und einer Baumwolldecke. Handtücher, Bettlaken und aller übriger `Luxus` blieben nur ein Traum. Unser Eßgeschirr bestand aus einer Emailleschale, einem Krug und einem Löffel. Die Toilette befand sich außerhalb des Gebäudes, und wir durften sie nur am Tag benutzen. Nachts wurde das ´Haus´ geschlossen. Das Frühstück bestand aus Ersatztee oder -kaffee. Außerdem erhielten wir ein kleines Brot für vier Personen für den ganzen Tag. Zum Mittagessen gab es etwas Brühe. Abends bekamen wir dasselbe wie morgens, aber ohne Brot.“ (69)
„Bis 1943 bestand meine Arbeitszeit aus 12 Stunden in zwei Schichten. Der Sonntag war frei. Ab Januar 1943 bis 1945 gab es keine freien Tage mehr, und von der zweiten Hälfte 1944 bis Anfang 1945 arbeitete ich nur noch eine Schicht. […] Die neue Werkhalle, in der ich ab 1943 arbeitete, war groß und hoch. In dieser befanden sich die mechanische Abteilung, die Galvanisierungs-, die Schmiede- und Pressenabteilung. In der mechanischen Abteilung wurden an Drehbänken die Körper verschiedener Geschosse geschliffen oder gedreht, in der Schmiede- und Pressenabteilung die Körper von Geschossen, Kurbelwellen und anderes hergestellt. […]
Manchmal stellte man mich an die Drehbank. Danach gab es oft Prügel oder eine andere Bestrafung, denn wir wurden für ´Vergehen´ in der Werkhalle bestraft: Zu einem Zwölf-Stunden-Tag wurden dann zwei, vier oder sechs Stunden für einen Zeitraum von sechs, zwölf oder 18 Tagen hinzugefügt, abhängig von der Schwere des ´Vergehens´. […] im Lager gab es für Verstöße gegen die Lagerordnung verschiedene Strafen, angefangen vom Putzen der Gebäude, der Toiletten, des Lagergeländes über Körperstrafen bis hin zum Abtransport ins Konzentrationslager.“ (70) […]
„Ich überlebte und starb nicht vor Hunger, dank einiger deutscher und ausländischer Arbeiter (Franzosen, Polen, Jugoslawen), die mir halfen, wo sie nur konnten. In unserem Lager der Firma HANOMAG lebten wir einträchtig und friedlich. Wir machten keinen Unterschied zwischen den Nationalitäten, und die Solidarität half uns sehr. Die Gestapo holte gelegentlich Leute ohne viel Aufsehen von der Arbeit weg. Als wir erfuhren, daß der Lagerdolmetscher Anti-Hitler-Gespräche provozierte und dann irgendwohin meldete, und daß die Leute, die ihre Unzufriedenheit ausgesprochen hatten, abgeholt wurden, da geschah es eines Abends während eines Luftalarms, daß man ihm einen Sack über den Kopf warf. Er wurde auf dem Lagergelände getötet. Nach diesem Vorfall kam die Gestapo in Zivilkleidung ins Lager. Nachdem sie keine Antwort auf die Frage erhielten, wer den Dolmetscher getötet hatte, erging das Kommando: ´Bis 3 abzählen!´ Die jeweils Dritten mußten aus der Reihe treten, in das Auto der Gestapo steigen, man fuhr sie weg, und wir sahen sie nicht wieder.“(72)
„Wenn ich heute an die Zeit von 1942 bis 1945 zurückdenke: Wir lebten am Rande Hannovers, und wenn ich ich ehrlich sein soll, so gefiel mir, daß es schon Fahrradwege, Bürgersteige, asphaltierte Straßen und ein Ringsystem für die Elektrizitätsversorgung gab. Wir haben diese Errungenschaften in der Ukraine bis heute nicht. Ich mochte die Grünanlagen und die Gepflegtheit der Straßen und Häuser. Ich habe aber keine Achtung vor Menschen, die andere in saubere und schmutzige, in kluge und dumme Nationen einteilen. Überhaupt hat die Zeit Kränkungen und Wunden, die uns das Hitler- und das Stalinregimes zufügten, abgeschwächt, allerdings nicht vollständig. Die nicht verheilenden Wunden bleiben bis zum Ende der Tage.“ (74)